Kraftwerk – Die Mensch-Maschine auf dem Rad

Culture

Was haben denn bitte die Elektro-Pioniere von Kraftwerk mit Fahrradfahren zutun? Eine ganze Menge. Wer ihre Musik verstehen will, muss diese Story kennen... Weil nun doch alles mehr Sinn macht. Mit viel investigativer Energie und Fleiß hat unser Autor Flo Kraus dieses verborgene Stück Geschichte aufgedeckt und beleuchtet eine ganz neue Seite der Band, die bisher nur Insidern bekannt war. Der Illustrator Darius Zelenkowits liefert dazu die perfekten Bilder!

Legenden über Kraftwerk gibt es viele. Etwa, dass die Mitglieder der Band ab Ende der 1970er Jahre „Disco-Verbot“ hatten und ihnen öffentliches Betrinken versagt wurde. Dass Kraftwerk, die wegweisenden Pioniere der elektronischen Klänge, nicht zeitlebens am eigenen Mythos selbst mitgearbeitet hätten, gliche wohl einer ordentlichen Fehleinschätzung. Alles andere als eine Legende ist jedoch die gut dokumentierte Leidenschaft für das Velo von Bandkopf Ralf Hütter und Co-Genie Florian Schneider-Esleben. 

Als Kraftwerk Anfang der Siebziger Jahre erstmals auf den Bühnen auftauchen, wildern sie noch in den Gefilden des sogenannten Krautrocks, jener deutschen Eigenart der Rockmusik, die sich durch ausgiebige, Jam-artige Instrumentalpassagen, aber auch durch monotone Rhythmen auszeichnet. Konsequent weitergedacht und um die „klassischen“ Instrumente der Rockband beschnitten, entwickeln sie daraus später ihr Synthesizer-basiertes Destillat, den ureigenen Kraftwerk-Sound: Blaupause für Techno und Sample-Quelle für unzählige Hip-Hop-Beats gleichermaßen.

Mobilität war dabei neben moderner Technik seit jeher ein zentrales lyrisches Motiv der Band. Die Single „Autobahn“ war ein riesiger Überraschungserfolg in den USA. Der „Trans-Europe-Express“ rollte 1977 in die Plattenläden und ebnete den künstlerischen Weg für die folgenden stilprägenden Alben. Dass man privat nicht die schnellsten und modernsten Fortbewegungsmittel so abgöttisch schätzte, sondern das Rennrad mag also zunächst etwas verwundern. So besang man einst ja eben die „Autobahn“ (1975) und nicht etwa den „Radweg“. Andererseits gibt es das späte Album „Tour de France“ (2003), kann man entgegnen. Das mag tatsächlich auch die Entwicklung innerhalb der Band abbilden. Lies man sich in den 1970er noch in protzigen Limousinen ablichten und „fuhr, fuhr, fuhr“ über die Autobahn, so berichtet Karl Bartos in seiner kürzlich erschienenen Autobiographie „Der Klang der Maschine“ über exzessive Fahrradtouren ab den 1980er Jahren, die den seltener werdenden Studiobesuchen voraus gingen. 

Statt neustes Musikequipment zu kaufen, oszillierten die Ausgaben um teure Rennräder.

Wolfgang Flür – Schlagzeuger der Band von 1973 bis 1987 – erzählt in seiner Autobiografie „Ich war ein Roboter“ ebenfalls von der ausgeprägten Leidenschaft der Bandköpfe Ralf Hütter und Florian Schneider. Nach einer gemeinsamen Welttournee 1982 waren die beiden demnach zunehmend seltener in den bandeigenen „Kling Klang Studios“ anzutreffen. Stattdessen erkundeten sie die waldreiche Umgebung Düsseldorfs mit ihren neuen Radsportfreunden. Statt neustes Musikequipment zu kaufen, oszillierten die Ausgaben um teure Rennräder, maßgefertigte Rahmen und die optimalen Reifen. Ähnlich einem guten Schinken oder einem vorzüglichen Wein, lagerte Ralf Hütter etwa seine Reifen im Keller, um sie monate- oder jahrelang „reifen“ zu lassen. Reifen reifen lassen, das klingt doch zumindest phonetisch naheliegend.

Karl Bartos zeigte sich in einem Interview mit dem Groove Magazin jüngst eher genervt über den ehemaligen Kollegen Hütter: „Er hat zunehmend mehr Zeit auf dem Fahrrad verbracht … Der ist zum Teil 200 Kilometer am Tag gefahren. Danach kannst du keine Musik mehr erfinden.“ Wo manchem Musiker, der nach dem Motto „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ gelebt hat, ein wenig Sport sicher nicht geschadet hätte, wurde bei Ralf Hütter und Florian Schneider aus dem neuen Hobby eine Obsession, die der Kreativität und der Disziplin im Studio eher abträglich war. 

„Ein Wettbewerb, der Erste sein zu wollen, entwickelte sich bei ihnen, den sie in meinen Augen fast schon genauso fanatisch austrugen, wie sie früher unsere Musik entwickelt hatten“, erinnert sich Wolfgang Flur wiederum. „Es führte dazu, dass sie lieber Fahrradprospekte von Campagnolo, Shimano und anderen Zubehörfirmen studierten, anstatt Ideen für neue Musiktitel auszuhecken, wenn wir uns im Kling Klang trafen.“ Vor allem Ralf Hütter schien dem Tourenrad komplett anheimgefallen zu sein. „Er lief fast nur noch in enganliegender schwarzer Rennradkleidung herum und hatte sich die Beine rasiert und eingeölt, wie es Profis tun. Der geringste Windwiderstand musste beseitigt werden, um schneller zu sein. Ich muss gestehen, er wurde von Monat zu Monat fitter, war immer frisch durchblutet und hatte diese euphorischen Rennfahreraugen. Ich glaube Ralf bekam damals ein völlig neues Gefühl für seinen Körper.“ 

Radfahren ist ein Tanz von Mensch und Maschine.

Die Radsportbegeisterung gipfelte im kreativen Sinne schließlich in der Komposition „Tour de France“ von 1983. Bereits vorher ist Ralf Hütter mit befreundeten Sportlern immer wieder Passagen der wohl bekanntesten Radtournee der Welt nachgefahren. Dazu reiste er in die Pyrenäen und die Alpen nach Frankreich. Zeitgleich wurden Anfang der 1980er Jahre Sampler für professionelle Musiker allmählich erschwinglich. Mithilfe jener konnte man Alltagsgeräusche aufnehmen und in Tonhöhe und Tempi variieren. Was wäre da also inhaltlich passender als das Geräusch eines Kettenlaufs oder der Gangschaltung als Hi-Hat zu verwenden? Auch Florian Schneiders Stöhnen und Atmen wurde als Sample in den Song eingebaut, wie man unschwer nachhören kann. Im Video zum Song sind alle vier Mitglieder in Radsportmontur in Szene gesetzt. Der radsportliche Novize Wolfgang Flür musste für den Videodreh vorab extra nochmal ein paar Übungsstunden einlegen. „Dass ich während der Dreharbeiten nicht vom Chromgestell fiel, grenzt für mich heute noch an ein Wunder. Wenn man nämlich in dem fertig gestellten Film genau hinsieht, kann man gut erkennen, dass ich ganz schön wackle. Das Rennradfahren war für mich jedenfalls nur ein kurzes Gastspiel.“

Ein gleichnamiges Album erschien dann erst 20 Jahre später („Tour de France“). Ralf Hütter erklärt dazu 2009 im Spiegel-Interview: „Wenn ich nicht Rad fahren würde und nicht wüsste, wie eine Bergetappe aussieht, hätte ich ein Album wie „Tour de France“ nicht gemacht. Wenn ich austrainiert bin, geht mein Ruhepuls immer noch in Richtung 50. Nach oben ist die Spanne bei 180, 185. Meine Leistungskurve haben wir im Booklet des Albums abgedruckt.“ Hütter weiter: „Radfahren ist ein Tanz von Mensch und Maschine. Für uns hängt das natürlich auch mit der Herkunft zusammen. Wir kommen aus Düsseldorf. Wir sind in der Nähe von Holland und Belgien groß geworden. Radfahren ist Teil unserer Kultur. Wenn wir aus Süddeutschland kämen, wäre das vielleicht anders. Dann würden wir uns vielleicht mehr mit Rodeln beschäftigen.“ 

Der Bandkopf legt also eine geographisch-kulturelle Deutung seiner Begeisterung nahe. Im Zuge der Veröffentlichung von „Electric Café“, welches nach mehrmaliger Überarbeitung und Umbenennung 1986 in den Läden stand, ereignete sich zudem ein schwerer Unfall, der den Release damals verzögerte. Hütter war inmitten einer Rennradgruppe mit einem fahrenden Begleiter kollidiert. Die Folge: Nachdem er mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug, zog er sich eine lebensgefährliche Schädelfraktur zu. Leichtsinnigerweise war er ohne schützenden Helm gefahren. Der Musiker lag lange Zeit ohne Bewusstsein im Koma. Die Bandkollegen waren besorgt, wie sich Wolfgang Flür erinnert: „Wir machten uns wahnsinnige Sorgen um unseren Freund und seine Genesung dauerte Wochen.“ Die Begeisterung für das Rennfahren hielt bei Hütter nichtsdestotrotz an. Elektro-Schlagzeuger Flür, der sich zum neuen Bandhobby anfangs überreden ließ, beendete seine Radkarriere dagegen, nachdem auch er gestürzt war: „Es machte mir einfach keinen Spaß mehr, weil meine Freunde an etwas anderem Spaß gefunden hatten, das nicht meine Sache war. Ich merkte es doch ganz genau: Das Radfahren war ihre neue Leidenschaft. Dabei wollte ich aber nicht mitmachen. Diese Fahrradtruppe war mit anderen Menschen und neuen Maschinen besetzt und ich hatte keine Lust, jetzt auch noch Leistungssportler zu werden (…) ich spürte instinktiv: Für Kraftwerk war ich nicht mehr zu retten.“ 1987 verlässt er die Band letztendlich. 

Ralf Hütter ist heute das letzte verbliebene Originalmitglied von Kraftwerk. Zusammen mit Florian Schneider bildete er die längste Zeit die kreative wie geschäftliche Chefetage der Gruppe. Seit 2009 gehen (und fahren) auch diese beiden getrennte Wege. Kürzlich erschien eine Werkschau mit einem überarbeiteten Backkatalog. Dafür gab es im Januar einen Grammy. Anlässlich des „Tour De France“- Starts in Deutschland 2017 spielte die Band ein weltweit gefeiertes Konzert in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die gemeinsame Freundschaft der essenziellen Bandbesetzung aus den 70er und 80er Jahren hat die komplette Strecke dagegen leider nicht überstanden.